Manche Leute können eine Stadt mit geschlossenen Augen erkennen. Die Geräusche der vorbeifahrenden Autos, das Stimmengewirr der Menschen, der Rhythmus ihrer Schritte auf dem Asphalt. „Jede Stadt hat eine eigene musikalische Sprache“, behauptet Nevin Aladağ.
Und wie klingt München? Welchen Rhythmus haben die Menschen in der bayerischen Landeshauptstadt? Wie kann man die Bürger*innen in ein partizipatorisches Projekt im öffentlichen Raum einbinden? Wie kann das urbane Gefüge einer Stadt durch akustische und räumliche Veränderung eine Umdeutung erfahren?
Diese Fragen ergründet Nevin Aladağ gemeinsam mit der in München lebenden Künstlerin Beate Engl in dem multimedialen Projekt „Top View 29.53 ft.“, das sowohl partizipatorische Elemente als auch eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Ort beinhaltet. Inspiriert von überdimensionalen Werbetafeln, wie man sie häufig an Ausfallstraßen und auf den Dächern von Häusern in internationalen Metropolen findet, entwirft Engl ein etwa neun Meter hohes Gerüst für ein Display, auf dem eine Videoarbeit von Nevin Aladağ zu sehen ist. Die Form des Gerüsts ergibt sich nicht allein aus den technischen oder ortsbezogenen Bedingungen, sondern behauptet sich vielmehr als autonome Skulptur im Stadtraum. Einige Gerüstteile werden nicht funktional verwendet, sondern ragen als chaotische Elemente aus der sonst kompakten Form heraus. Das bewusst improvisierte Erscheinungsbild der temporären Konstruktion weckt nicht nur Erinnerungen an überforderte Baumeister, sondern auch an das Scheitern von utopischen Architekturprojekten wie Tatlins Monument für die III. Internationale.
Für das Video hat Nevin Aladağ Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlecht, unterschiedlicher Ethnizität und Gesellschaftsschicht in der Münchner Innenstadt angesprochen und sie gebeten, einige Tanzschritte vor der Kamera vorzuführen. Obwohl die Menschen im Film anonym bleiben und man von ihnen nicht viel mehr als die Schuhe und die Bewegung der Füße sieht, verraten sie doch sehr viel über ihre Identität. Etwa 50 Filmsequenzen komponierte Aladağ zu einem Loop, dessen Sound sich aus dem Klappern der Absätze und den schlürfenden Sohlen auf dem jeweiligen Plattenbelag von Münchner Gehwegen und Plätzen zusammensetzt. Der Film wird auf einem LED-Display gezeigt, wie sie gewöhnlich in der Werbung im öffentlichen Raum verwendet werden. Der Titel der Arbeit „Top View 29.53 ft.“ bezieht sich auf die reale Höhe des Gerüsts, beinhaltet mit der englischen Maßeinheit aber auch eine Anspielung auf die Füße, die auf dem Display zu sehen sind.
Als Aufstellungsort für ihr multimediales Projekt wählen die Künstlerinnen bewusst den Rindermarkt, der mit seinem terrassenförmig gestalteten Brunnen eine Art Tribünensituation vorgibt. „Wir suchten einen Ort, der eine urbane Struktur, aber auch eine Verweilqualität hat“, erklärt Engl. An diesem belebten Platz verdichtet sich der Rhythmus der Tanzenden mit den realen Geräuschen der Stadt zu einem sommerlichen Klangteppich.
Nevin Aladağ, geboren 1972 in Van, lebt und arbeitet in Berlin. Beate Engl, geboren 1973 in Regen, lebt und arbeitet in München, Prackenbach und Innsbruck.