In der Anthropologie bezeichnet Liminalität (lat. līmen: „Schwelle“) die Qualität der Mehrdeutigkeit oder Desorientierung, die in der mittleren Phase eines Übergangsrituals auftritt, wenn die Teilnehmenden nicht mehr ihren Status vor dem Ritual innehaben, aber noch nicht den Übergang zu dem Status begonnen haben, den sie nach Abschluss des Rituals innehaben werden. Nach Victor Turner stehen sie „an der Schwelle“ zwischen ihrer bisherigen Art, ihre Identität, Zeit oder Gemeinschaft zu strukturieren, und einer neuen Art. Während liminaler Perioden können soziale Hierarchien umgekehrt oder vorübergehend aufgelöst werden, die Kontinuität von Traditionen ungewiss, und zukünftige Ergebnisse, die einst als selbstverständlich galten, in Frage gestellt werden.
Beide Fotografien entstanden 2017 bei einer Expedition zur Forschungsstation Neumayer III in der Antarktis. Ob sie Ein- oder Ausgänge abbilden, einen Abstieg oder einen Aufstieg darstellen, Rettung oder Verdammnis versprechen bleibt ungewiss. Für mich erzählen diese zwei Fotos vom transitorischen Moment, in dem wir uns befinden. Die Menschheit muss den Durchgang zu einer klimagerechten Weltordnung passieren.
Der 6. Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel of Climate Change stellt eindeutig fest, dass eine klimaresiliente Entwicklung bereits beim derzeitigen Erwärmungsniveau eine Herausforderung darstellt. In einigen Regionen wird sie unmöglich sein, wenn die globale Erwärmung 2°C übersteigt. Diese Erkenntnis unterstreicht die Dringlichkeit von Klimamaßnahmen, die sich auf Gleichheit und Gerechtigkeit konzentrieren. Angemessene Finanzierung, Technologietransfer, politisches Engagement und Partnerschaften führen zu einer wirksameren Anpassung an den Klimawandel und zu einer Verringerung der Emissionen. Jede weitere Verzögerung bei konzertierten globalen Maßnahmen wird ein kurzes und sich schnell schließendes Fenster zur Sicherung einer lebenswerten Zukunft verpassen.
Judith Neunhäuserer, geboren 1990 in Bruneck, lebt und arbeitet in München und Mailand.