Die 68er Revolte? In Deutschland? Das war doch in Berlin! Oder jedenfalls hauptsächlich. Oder? Tatsächlich hat sie starke Wurzeln in München. Ihr antiautoritärer Aktivismus geht zum guten Teil auf die Schwabinger Bohème zurück. Treibende Kraft waren die Künstlergruppe SPUR und vor allem die SUBVERSIVE AKTION um Dieter Kunzelmann, zu der später auch Rudi Dutschke stieß. Inspiriert waren sie von der Situationistischen Internationale in Paris.
In ihrem Kunstprojekt „boykottiert die systeme!“ forschen Rudolf Herz und Julia Wahren nach den revolutionären Strömungen der frühen 60er Jahre in München. Herz’ Recherche brachte zahllose Originaldokumente und neue Erkenntnisse zutage. Und sie führte ihn zu Aktivist*innen von damals, die heute, teils hochbetagt, auf der ganzen Welt verstreut leben. Herz hat sie nach München eingeladen, zu Streifzügen durch die Stadt, zu Besuchen historischer Orte und zu einem denkwürdigen Wiedersehen – eine Spurensuche in der Vergangenheit, in einem Wettlauf gegen die Zeit.
Jetzt machen Herz und Wahren den subversiven Spirit vom Vormärz der Revolte sichtbar: in Filmen und in transmedial-künstlerischen Performances im öffentlichen Raum. „boykottiert die systeme!“ gibt den Anfängen der Bewegung erstmals ein Gesicht.
Der öffentliche Raum war das Spielfeld der Aktivist*innen. Der performative Ansatz, mit Fluxus und (Neo-)Dada, erschloss dem politischen Ausdruckswillen völlig neue Möglichkeiten; Kunst und Kundgebung wurden eins, Gesellschaftskritik und Sabotage gingen Hand in Hand.
Diese neue, enge Verbindung ist in „boykottiert die systeme!“ allerorten gegenwärtig. Vom Neuerfinden der Welt im Schwabing der frühen ’60er berichtet Birgit Daiber, ehemalige Subversive und später Europaabgeordnete der Grünen, auf einem Streifzug durch ihren früheren Wirkungskreis – flankiert von unverhofften Lesungen aus Flugblättern – Treffpunkt ist der Brunnen am Geschwister-Scholl-Platz. „Gaudi an die Macht!“ forderte die Gruppe SPUR im Januar 1961. Julia Wahren macht aus dem Manifest der jungen Künstler eine anarchisch-musikalische Sprachperformance am Rindermarkt, mit Studierenden der Theaterakademie August Everding und Akteuren der experimentellen Münchner Musikszene. „Mescalin ins Festessen!“ ersann, neben vielen anderen Ideen, die SUBVERSIVE AKTION auf ihrer allerdings nie abgearbeiteten Liste zur Störung der documenta ‘64. Julia Wahren und Kammersänger Christopher Robson machen diese Liste zu einer multistilistischen Sonntagnachmittags-Arie vor dem Kunstbau am Lenbachhaus.
Die sieben Filme mit den Aktivist*innen von damals stellen Herz und Wahren in einer Matinee im Münchner Werkstattkino vor. Auf das Projekt „boykottiert die systeme!“ folgt im Jahr 2024 die Ausstellung „Revolutionäre Ungeduld“ von Rudolf Herz im Museum Villa Stuck, München.
Rudolf Herz, geboren 1954 in Sonthofen, lebt und arbeitet in München. Julia Wahren, geboren 1968 in Hannover, lebt und arbeitet in München.